Nr. 269 - 1. Mai 1993 - 21. Jahrgang
Erinnerungen an das vormoderne Dorf!
„Nix hinwer'n loss'n!“
Anastasia Nemec
Meine Heimat ist die niederösterreichische Ortschaft Hausmening bei
Amstetten. Hausmening, am rechten Ufer der Ybbs, ist mit dem angrenzenden und
weitaus älteren Markt Ulmerfeld, dessen Anhöhe eine gotische Kirche und ein
mächtiges Schloss bekrönt, seit jeher eng verbunden und überdies in die
liebliche Landschaft des Mostviertels eingebettet.
In einem kleinen Haus direkt am Ufer der Ybbs kam ich im Juni des Jahres
1903 als jüngstes von 3 Kindern zur Welt.
Sowohl mein Vater als auch meine Mutter arbeiteten in Hausmening in der
Theresienthaler Papierfabrik, damals im Eigentum der Gesellschaft Ellissen,
Roeder und Comp., seit 1918 im Besitz der Neusiedler Aktiengesellschaft. Diese
noch heute bestehende Fabrik war seit ihrer Gründung im vorigen Jahrhundert
stets ein bedeutendes Unternehmen.
Die Jahre der Kindheit und Jugend, die ich in Hausmening verbrachte und
die allgemeine Lebensweise unterschieden sich ganz wesentlich von den heutigen
Lebensformen.
Alles war viel einfacher und bescheidener, aber auch natürlicher,
beständiger und dauerhafter. So war es zum Beispiel selbstverständlich, dass
meine Eltern mit ihren drei Kindern und einer Großmutter eine
Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung benützten und damit ohne weiters das Auslangen
fanden. Als ich im Herbst des Jahres 1909 in die Volksschule eintrat, war meine
Grundausstattung sehr einfach. Ein in der Papierfabrik beschäftigter Sattler
fertigte sehr robuste Schultaschen, die auf dem Rücken zu tragen und bei allen
Kindern von Ulmerfeld und Hausmening einheitlich in Verwendung waren, und zwar
während der gesamten 8-jährigen Schulzeit. Dazu kam noch eine Schiefertafel,
ein hölzernes Pennal für den Griffel, sowie Schwamm und Tuchen zum Reinigen der
Tafel. Schiefertafel und Pennal waren in der Schultasche verstaut, nur Schwamm
und Tücherl hingen heraus. Diese wenigen Utensilien genügten vorerst, denn
während der ersten zwei bis drei Schuljahre schrieben wir nicht in Hefte,
sondern nur auf die Schiefertafel und benützten diese auch zum Schreiben der
Hausaufgaben. Für den Rechenunterricht war das einzige Hilfsmittel eine große
"Rechenmaschine" aus Holz. Auf Metallstäben waren je 10 verschiebbare
Kugeln angebracht. Die linken 5 Kugeln waren meist rot, die rechten blau gefärbt.
Eine zweckmäßig und praktisch unverwüstliche Konstruktion! Auf das Rechnen -
auch das Kopfrechnen - wurde großer Wert gelegt.
In der Singstunde lernten wir die beliebtesten Volks- und Kinderlieder,
und zwar ausschließlich nach dem Gehör, ohne Noten und sonstiges Zubehör. Unser
Gesang wurde stets auf der Violine begleitet, einem Instrument, das damals
jeder Volksschullehrer spielen konnte.
Die Verköstigung bei uns zu Hause war ausreichend, aber einfach, da man
zum Teil auf Selbstversorgung angewiesen war und durchaus nicht alles in
Geschäften zu kaufen bekam. Ein wichtiger Bestandteil unserer
Lebensmittelversorgung war der von meinem Vater intensiv genützte Gemüsegarten,
aus dem wir je nach Jahreszeit Salat und Frühkartoffeln, Stangenbohnen und Kohlrabi,
Gurken und Zwiebeln entnehmen konnten. Im Winter ersetzte meine Mutter das
Frischgemüse aus dem eigenen Garten durch Verwendung von eingelagerten
Krauthäupteln, selbst eingeschnittenem Sauerkraut, zugekauften Lagerkartoffeln
und Winteräpfeln.
Der Vorrat war so bemessen, dass er für den ganzen Winter reichte. Die
Alltagskost bestand hauptsächlich aus Kartoffeln, Teigwaren und Reis mit
einfachen Beilagen. Am Freitag gab es meist einen großen Reindlkuchen oder
Buchteln aus Germteig. Diese Buchteln waren mit Himbeermarmelade gefüllt, die
meine Mutter in großen Mengen einkochte und in Gurkengläsern aufbewahrte.
Fleisch gab es nur an Sonn- und Feiertagen. Most war der allgemein
übliche Haustrunk für die Erwachsenen. Fallweise wurde das heimische Mostobst,
besonders aber die schmackhaften "Rotbichlbirnen", auch als
Frischobst gerne gegessen.
Im Herbst war es üblich, den Überschuss an heimischem Obst, vor allem
Zwetschken und Birnen, fallweise auch Äpfel, durch Dörren haltbar zu machen.
Die Menschen gingen mit allen Gaben der Natur und der menschlichen Arbeit sehr
sorgsam um und hätten es geradezu als Sünde empfunden, etwas Essbares verderben
und verfaulen zu lassen. Zu jedem Bauernhof gehörte ein "Dörrhäusl"
(heute leider entweder verfallen oder überhaupt abgetragen), in dem mit Hilfe
einer sorgfältig gewarteten Holzfeuerung das langwierige und zeitaufwendige
Dörren vor sich ging. Das Dörren war meist Aufgabe der älteren
Familienmitglieder, die schwere Arbeiten nicht mehr verrichten konnten.
Im Winter dienten die "Kletzn'' und Dörrzwetschken für die
Zubereitung von Kompott und dem beliebten und sehr lange haltbaren
"Kletznbrot". Das "Kletznbrot" ist zwar mit der allgemeinen
Nostalgiewelle wieder zu neuem Ansehen gelangt, wird aber nur mehr selten in
bäuerlichen Haushalten, sondern meist in Bäckereibetrieben hergestellt.
Im Sommer, besonders in den Ferien, gingen Erwachsene und Kinder,
ausgerüstet mit Häferin, Kübeln und Kannen, in die umliegenden Wälder Beeren
pflücken.
In der "Heide", das ist das Waldgebiet zwischen Amstetten,
Hausmening und Kröllendorf, gab es zu Beginn der Ferien auf den sonnigen
Schlägen, die nur langsam und auf natürliche Weise wieder dem Bewuchs
anheimfielen, die köstlichen Walderdbeeren. Sie wurden zerdrückt und ganz
frisch mit Milch und Zucker als "Erdbeergatsch" verspeist. Die später
reifenden Himbeeren sammelten wir Kinder in so großen Mengen, dass meine Mutter
die bereits erwähnte und sehr geschätzte Himbeermarmelade einkochen konnte. Die
Beerenpflücker gingen zum Unterschied von den Schwammerlsuchern immer in
größeren Gruppen. Die Schwammerlsucher waren hingegen als Einzelgänger
unterwegs, hielten ihre bevorzugten Plätze geheim und brachten mit etwas Glück
und Ausdauer entweder die sogenannten "Butterschwammerl", den
Eierschwammerln sehr ähnlich, oder die hochgewachsenen Parasolpilze nach Hause,
die mit ihren großen, flachen Hüten geradezu elegant aussahen.
Die Erwachsenen brachen zum Beerenpflücken oft schon im Morgengrauen,
ungefähr um 4 Uhr früh auf, um die kühlen Morgenstunden auszunützen. Es wurde
selbstverständlich überall hin, auch zu den weiter entfernten Sammelplätzen, zu
Fuß gegangen. Man war überhaupt immer zu Fuß unterwegs. Nur für größere
Transporte und für besondere Anlässe, wie z.B. Hochzeiten, bediente man sich
eines Pferdefuhrwerkes. Für kleinere Transporte gab es in jedem Haushalt, die
sogenannte "Radltrag", ein einrädriges, scheibtruhenähnliches
Fahrgestell.
Das Einkochen ging auf dem mit Holz beheizten Küchenherd vonstatten, der
außer zum Kochen, Backen und Braten auch der Beheizung und Warmwasserbereitung
diente und somit in jeder Wohnung eine zentrale Funktion innehatte. Das
benötigte Wasser musste vom Brunnen in die im 1. Stock befindliche Wohnung
getragen werden, sodass man darauf achtete, nichts davon zu verschwenden. Selbst
die Bauern gingen mit dem Wasser äußerst sparsam um. Manche verwendeten zum
Wäschewaschen grundsätzlich nur gesammeltes Regenwasser, um ihren Brunnen nicht
"auszuschöpfen". Wer in der Nähe des Ybbsflusses wohnte wie wir, ging
zum Schwemmen der Wäsche jedenfalls zur Ybbs. Die nasse Wäsche wurde auf der
bereits erwähnten "Radltrag" transportiert. An einer günstigen
Uferstelle befand sich ein kleines Holzplateau, das sogenannte
"Schwemmbrückerl." Auch andere, wesentlich kleinere fließende
Gewässer wurden nach Möglichkeit zum Wäscheschwemmen benützt. Von der Ybbs
holten wir auch immer etwas feinen Sand, der als Reibsand zum Reinigen von
Kochgeschirr Verwendung fand.
Nun aber zurück zu den Nahrungsmitteln des täglichen Bedarfes. Bei uns
und in vielen anderen Familien war es üblich, die Milch mit einer Milchkanne
jeden Tag von einem nahegelegenen Bauernhof zu holen. Meist war dieser etwa
halbstündige Fußweg zu einem der für das Mostviertel so charakteristischen
Vierkanthöfe den Kindern übertragen und zeitmäßig so eingeteilt, dass man
bereits die am Abend frischgemolkene Milch bekam. Manche Bauern führten die
Milch auch aus. Als Zugtier diente entweder ein Pferd oder bei den kleineren
Bauern ein Bernhardinerhund. Ein Milchgeschäft in der später üblichen Art gab
es nicht, wohl aber einen Bäcker, einen Fleischhauer und einen Greißler, wo man
unter anderem das für die Lampen benötigte Petroleum erhielt. Fast jede Familie
hatte im Holzschuppen einen Hasenstall untergebracht, in dem man Hauskaninchen
hielt. Sie wurden teilweise mit Küchenabfällen, wie Kartoffelschalen, Salat-
und Gemüseresten, teilweise mit täglich frisch gepflücktem Gras und
Löwenzahlblättern, dazu noch mit etwas frischer Milch, gefüttert und ergaben
nach einigen Monaten einen wohlschmeckenden Sonntagsbraten, der noch dazu
nichts gekostet hatte. Die Haltung von Hauskaninchen war in meinem Heimatort
und in vielen anderen ländlichen Gebieten noch bis in die Zeit nach dem 2.
Weltkrieg üblich. Im Herbst, zur Zeit der großen Treibjagden in den
Coburg'schen Wäldern, gab es fallweise sogar einen Feldhasen als
Sonntagsbraten. Nach der Jagd wurden die damals noch sehr zahlreich erlegten
Hasen auf Leiterwagen geladen, in Reih und Glied auf reisigverzierte
Holzstangen gehängt, durch die Ortschaft geführt und so zum Verkauf angeboten.
Mein Vater schätzte einen gut gewürzten Hasenbraten als willkommene Abwechslung
für den sonntäglichen Mittagstisch. Außerdem waren diese frisch erlegten
Feldhasen immer sehr billig. Lebensmittel mussten immer frisch verbraucht
werden, denn die Kühlmöglichkeit im Keller war begrenzt und man wollte nicht
das Geringste verderben lassen. Lebensmittelreste, die beim Kochen anfielen,
warfen wir keinesfalls weg, sondern sammelten sie für den sogenannten
"Schweinetrank", den ein Bauer regelmäßig von allen Haushalten
abholte. Als Gegenleistung bekamen wir zur Schlachtzeit, das war immer im
Spätherbst - ein ansehnliches Stück Schweinefleisch geschenkt. Selbst
schadhaftes Kochgeschirr hoben wir auf, bis der von Haus zu Haus wandernde
"Rastelbinder" kam, um es zu reparieren.
Weitere Grundnahrungsmittel, wie Eier, Butter und Speck, kauften wir
ebenfalls direkt beim Bauern, allerdings im Rahmen unserer
Sonntagsspaziergänge, die regelmäßig jeden Sonntagnachmittag stattfanden und an
welchen alle Familienmitglieder in ihrer Sonntagskleidung teilnahmen.
Meine Schwester Flora und ich trugen Sonntagskleider und hatten - zum
Unterschied von den Wochentagen - auch Schuhe an. Als Kopfbedeckung hatten wir
die allgemein üblichen Strohhüte, die auch an heißen Wochentagen getragen
wurden. Sonnengebräunte Mädchengesichter entsprachen nicht der Mode und mussten
daher sorgfältig vermieden werden. Mein Vater trug seinen Sonntagsanzug und
seinen Spazierstock, meine Mutter einen dunklen Rock - der Mode entsprechend
bodenlang -, eine helle hochgeschlossene Bluse mit langen Ärmeln und dazu einen
breiten Gürtel. Der Strohhut meiner Mutter war ein sogenannter
"Girardihut" mit einem breiten dunklen Band. Mein Bruder Toni führte
am Sonntag seinen dunklen Schnürlsamtanzug und - ebenso wie mein Vater - seinen
Spazierstock aus. Alle Kleidungsstücke wurden unverändert getragen, so lange
sie ansehnlich, in Ordnung und nicht beschädigt waren. Ein ständiger Wechsel
der Garderobe war nicht üblich und wäre überdies für die Bevölkerungsschichte,
der meine Eltern angehörten, schon aus finanziellen Gründen gar nicht möglich
gewesen.
Alltagskleidung und Sonntagskleidung hielt man streng auseinander. Die
Sonntagskleidung, maßgeschneidert und aus gutem, dauerhaftem Material
gefertigt, war eine Anschaffung fürs Leben und nicht für ein paar Jahre.
Selbst ganz unbrauchbar gewordene Kleidungsstücke, Stoffreste und
sonstige textile Abfälle warfen wir nicht weg, denn diese wurden wiederum vom
regelmäßig erscheinenden "Hadermann" zur Wiederverwertung abgeholt.
Die "Hadern" ergaben einen begehrten Rohstoff, zum Beispiel für die
Erzeugung von Banknotenpapier in der Theresienthaler Papierfabrik Hausmening.
Und damit war auch hier der Kreislauf wieder geschlossen.
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