Nr. 290 - 1. Jänner 1995 - 21. Jahrgang
Der Nationalitätenkonflikt in Amstetten
vor dem 1. Weltkrieg
(Josef Freihammer)
Wenn wir die Ausgaben des "Amstettner Wochenblattes" aus der
Zeit von der Jahrhundertwende bis zum 1. Weltkrieg durchblättern, begegnet uns
fast in jeder Nummer das Problem des Konfliktes zwischen der einheimischen
Bevölkerung und den nichtdeutschen Zuwanderern. Die Töne, die wir bei dieser
Lektüre vernehmen, kommen uns bisweilen sehr vertraut vor -
Ausländerfeindlichkeit hat es bei uns fast immer gegeben.
Ausländerfeindlichkeit allerdings unter Anführungszeichen -denn bei den
tschechischen und slowakischen Zuwanderern handelte es sich ja nicht um echte
Ausländer, sondern um Staatsbürger der Österreichisch-Ungarischen Monarchie,
allerdings nichtdeutscher Muttersprache. Heute sind Türken und Jugoslawen
Nicht-Österreicher, echte Ausländer. Dabei hat man damals wie heute eine nicht
unerhebliche Zahl von Zuwanderern notwendig gebraucht - bei Bahn- und
Straßenbauten und für viele Hilfsdienste - nur hat man stets zu verhindern getrachtet,
dass sie hier auf Dauer sesshaft wurden. Bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts
war die Bevölkerung des Marktes Amstetten weitgehend bodenständig. Das änderte
sich erst allmählich mit der weiträumigen Verkehrserschließung durch die
Bahnbauten.
Zum ersten Mal ist der Einsatz fremder Arbeiter in großer Zahl beim Bau
der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn 1857/1858 erfolgt. Es wird berichtet, dass
tausende Menschen, meist Böhmen, mit Krampen und Schaufel die Erdarbeiten bewältigten,
während man für die Steinarbeiten Italiener einsetzte. Die Arbeiter waren in
Baracken und Scheunen untergebracht, eine Kantine versorgte sie mit Speis und
Trank. In dieser Zeit stieg auch die Kriminalität im Raume Amstetten an - was
die Abneigung der einheimischen Bevölkerung gegen die Fremdarbeiter verständlich
macht. Aber schon für diese Zeit gilt, was auch heutzutage festgestellt werden
kann - nicht immer waren es die ausländischen Arbeiter, die für die
kriminellen Delikte verantwortlich waren.
Zur Beruhigung der ansässigen Bevölkerung trugen zwei Dinge bei:
Erstens die Tatsache, dass die fremden Arbeiter praktisch abgeschlossen
für sich lebten und arbeiteten und nur in der arbeitsfreien Zeit den Markt
besuchten (und nebenbei gern gesehene Kunden der Amstettner Geschäftsleute
waren) und zweitens das Wissen, dass die Fremden sich nur vorübergehend in der
Umgebung von Amstetten aufhielten. Ähnliches wie beim Bau der
Kaiserin-Elisabeth-Westbahn wiederholte sich beim Bau der Kronprinz-Rudolf-Bahn
1871/72. Als bekannt wurde, dass die Zweiglinie der Kronprinz-Rudolf-Bahn von
Amstetten nach Kleinreifling gebaut werden sollte, sammelte sich aus allen
Kronländern stammendes Volk in Amstetten an, in der Hoffnung, beim Bahnbau
unterzukommen. Familienweise lagerte es vor dem Markt. Als sich der Bahnbau
immer wieder verzögerte, gerieten die arbeitslosen Massen in große Not. Die
Bevölkerung des Marktes half den Verzweifelten immer wieder mit dem
Lebensnotwendigsten. Trotzdem konnte nicht verhindert werden, dass sich die
Eigentumsdelikte häuften. Keinesfalls sah man in den arbeitssuchenden Fremden
eine Bedrohung der angestammten Art. Sogar noch beim Bau der Allersdorfer
Ybbsbrücke 1900/01 betrachtete man die auf der Baustelle werkenden, in kleinen
Hütten in der Ybbsau hausenden transleithanischen Arbeiter als Exoten, von
denen man nichts zu befürchten hatte. Die Amstettner zogen damals in Scharen
hinaus zur Ybbs, um sich das wunderliche Schauspiel neugierig anzuschauen.
Trotz der damals schon stark spürbaren deutschnationalen Agitation gegen die
slawische Überfremdung zeigte man keinen Hass. Typisch für die zweite Hälfte
des 19. Jahrhunderts waren die Wanderburschen, Handwerkergesellen, die auf
ihren Wanderfahrten die notwendige Berufserfahrung sammelten. In den sechziger
Jahren des 19. Jahrhunderts stammte schon fast die Hälfte dieser
Wanderburschen aus dem Raum der heutigen Tschechei und Slowakei, wobei man aber
zwischen Böhmen (Tschechen) und Deutsch-Böhmen (Sudetendeutschen) deutlich
unterschied.
Eine einschneidende Änderung im politischen und gesellschaftlichen Leben
ergab sich nach dem verlorenen Krieg von 1866 mit dem sogenannten
"Ausgleich", der Schaffung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
Die Vorrechte, die man den Deutsch-Österreichern und Ungarn gewährte, während
man die Forderungen der Slawen missachtete, bildeten in der Folge den Nährboden
für die nationalen Konflikte, die schließlich zum Zerfall der Donaumonarchie
führten. Mit der Einführung der allgemeinen staatsbürgerlichen Grundrechte in der
liberalen Ära, zu denen auch die Freizügigkeit zählte, hatte man Bedingungen
geschaffen, die ein beträchtliches Konfliktpotential in sich bargen.
Mit der Fertigstellung der Kronprinz-Rudolf-Bahn und der Errichtung der
sogenannten Eisenbahn-Montur- und Reparatur-Werkstätte 1873 wuchs Amstetten
über den Rahmen eines im Wesentlichen von bodenständiger Bevölkerung bewohnten
Marktes hinaus. Um die Jahrhundertwende waren allein in der Bahnwerkstätte an
die 300 Eisenbahner beschäftigt, dazu kamen die übrigen Bahnbediensteten.
Amstetten als Ausgangspunkt der Kronprinz-Rudolf-Bahn wurde, nachdem diese
Bahnlinie 1884 verstaatlicht worden war, der Staatsbahndirektion Villach
unterstellt. Da die Eisenbahner im gesamten Gebiet der Monarchie versetzt
werden konnten, kamen nun zahlreiche Eisenbahner aus der Steiermark, Kärnten
und Krain - auch solche nichtdeutscher Muttersprache - nach Amstetten. Um 1900
gab es in Amstetten etwa 450 Eisenbahner - Amstetten war endgültig zur
Eisenbahnerstadt geworden. Diese Entwicklung war den in Amstetten maßgeblichen
deutsch-liberalen Kreisen - sie stellten mit Ignaz Innerhuber auch den
Bürgermeister - in vieler Hinsicht nicht genehm. Man war so sehr gegen das
Vordringen des Slawentums, dass man 1878 auch gegen die Okkupation von
Bosnien-Herzegowina Stellung bezog. Die liberale Reichsregierung ist deswegen
auch zurückgetreten.
1880 gaben bei der Volkszählung von den 1727 Einwohnern Amstettens nur 3
als ihre Umgangssprache Böhmisch, Mährisch oder Slowakisch an. Dann aber nahm
die Zahl der Zuwanderer aus dem Gebiet des heutigen Tschechien und der Slowakei
sprunghaft zu. Noch größer aber war die Zahl der Zuwanderer, die einen
tschechischen Namen trugen, aber bereits in Wien und Niederösterreich
naturalisiert worden waren. Es handelte sich dabei vorwiegend um Eisenbahner.
Die meisten tschechischen Zuwanderer kamen aus Südböhmen (Budweis, Prachatitz,
Krumau Strakonitz usw.) und aus Südmähren (Brünn, Iglau). Nicht unerheblich war
die Zahl der zugezogenen Deutsch-Böhmen (Sudetendeutschen). Das war insofern
von Bedeutung, als gerade diese Neu-Amstettner, gegen die man natürlich
keinerlei Vorurteile hegte, überwiegend deutschnational eingestellt waren,
kamen sie doch aus einem Gebiet, in dem der Konkurrenzkampf gegen die Tschechen
besonders rege war. Seit eh und je wurden die Zigeuner von der einheimischen
Bevölkerung als Landplage betrachtet, auch als Überträger von Menschen- und
Tierseuchen gefürchtet. Ein Gesetz von 1888 bestimmte, dass alle Zigeuner nach
Ungarn abzuschieben wären.
Keinerlei Probleme gab es mit den 60 Italienern, die Baumeister
Schreihofer in seinem 1881 errichteten Ziegelofen beim Pöchhackerhof
beschäftigte. Sie waren Saisonarbeiter, die den Winter stets bei ihren
Familien, vorwiegend in Friaul, verbrachten.
Überhaupt war von einem Nationalitätenkonflikt in Amstetten in den
80iger und 90iger Jahren des 19. Jahrhunderts kaum etwas zu bemerken. Die
hiesige Zweigstelle des Deutschen Schulvereins musste sogar wegen Mangels an
Mitgliedern vorübergehend aufgelöst werden. Nach anfänglichem Protest nahm es
die Amstettner Gemeindeverwaltung auch hin, dass die Heimatgemeinden der
zugewanderten Handwerksburschen und Arbeiter mit ihr in tschechischer Sprache
korrespondierte. Die Regierung der westlichen Reichshälfte hatte den Amtsgebrauch
der tschechischen Sprache gestattet. Die Tschechen, die sich nun in Amstetten
in großer Zahl niederließen, haben den Gebrauch ihrer Muttersprache rasch
aufgegeben und sich schnell den hiesigen Verhältnissen angepasst. Diese
Tatsache schlug sich auch im Ergebnis der Volkszählung von 1890 nieder. Von den
2600 Einwohnern des Marktes Amstetten gaben nur 2 Personen Böhmisch, Mährisch
oder Slowakisch als Muttersprache an. Bei der nächsten Volkszählung 1900 sah
die Sache schon anders aus: Von den 5670 Einwohnern gaben nur 3 als ihre Umgangssprache Böhmisch, Mährisch oder
Slowakisch an.
Um die Jahrhundertwende nahm der slawische Zuzug merklich ab, während
die Zuwanderung von Sudetendeutschen anhielt, und damit auch das
deutschnationale Element stärkte. Um 1900 trat bei den Deutsch-Liberalen die
deutschnationale Komponente immer stärker in den Vordergrund. Man glaubte das
Deutschtum in der westlichen Reichshälfte durch das erstarkende slawische
Element bedroht. Der deutsch-tschechische Sprachenkonflikt führte zu
tumultartigen Szenen im Reichsrat und zu Straßendemonstrationen in Wien. Die
nationale Frage bewegte bald die ganze Bevölkerung. Der steirische nationale
Schutzverein "Südmark", der sich für die Erhaltung deutscher Schulen
in der von Deutsch-Österreichern und Slowenen besiedelten Südsteiermark
einsetzte, gründete in Amstetten eine Ortsstelle, der "Deutsche
Schulverein", wurde immer aktiver und erhielt von der Stadtgemeinde eine
Subvention. Bei einer großen Burenfeier im Bräuhausgarten verglich man den Kampf
der Buren gegen die Engländer mit der eigenen nationalen Sache. "Auch die
Deutsch-Österreicher kämpfen um ihre Muttersprache" hieß es. Es liegt auf
der Hand, dass das eine maßlose Übertreibung war. Kämpferische nationale Töne
waren in verschiedenen bürgerlichen Vereinen deutlich zu vernehmen, etwa im
Turnverein, im Männergesangsverein, im "Deutschen Volksverein für
Amstetten und Umgebung" und im "Deutschen Frauenverein".
Der immer stärker zutage tretende deutsch-tschechische Konflikt wirkte
sich auch bei den Landtags- und Reichstagswahlen vor dem 1. Weltkrieg aus, und
zwar bei den Wählerstimmen in der Kurie der Städte und Märkte (5. Kurie).
Tschechen waren vermehrt in Niederösterreich eingewandert, gelenkt vom
tschechischen Nationalrat für Niederösterreich und zum Teil finanziert von
tschechischen Banken. Sie siedelten vorwiegend im Osten, hauptsächlich in
Wien, und waren zumeist bereit, sich der einheimischen Bevölkerung anzupassen.
Dies führte im Gegenzug zu einer Stärkung der "Deutschen Volkspartei".
Bei den Wahlen übertraf sie die bisher stärkste Partei, die Christlichsozialen.
Böses Blut machte die sogenannte Güterschlächterei. So berichtete das
"Amstettner Wochenblatt" 1905, dass böhmische Händler von einer
verwitweten Bäuerin in Strengberg ein Bauerngut von 53 Joch aufgekauft,
zerstückelt und die Teile weiterverkauft hätten. Solche Praktiken wurden
natürlich von den Deutsch-Nationalen entsprechend angeprangert. 1907 weist der
"Deutsche Schutzverein" auf die slawische Überfremdung in Niederösterreich
hin - man spricht von 4000 tschechischen Bauern und landwirtschaftlichen
Hilfskräften im Kronland. Der Verein "Südmark", der sich gegen die
slawischen Expansionsbestrebungen wandte, wird immer aktiver. Es werden
Familienabende veranstaltet, die gut besucht sind. Dabei spart man nicht mit
Angstparolen. So heißt es etwa, die Deutsch-Österreicher zahlten mehr als
siebenmal so viel an Steuern als die ganze slawische Bevölkerung.
Die slawenfeindlichen Bestrebungen fanden fortan im "Amstettner Wochenblatt"
eine starke Stütze. Veranstaltungen des Vereines "Südmark" werden
lobend hervorgehoben, wenn sie gut besucht sind; sind sie schlecht besucht,
wird das sehr bedauert. Meldungen über politische Aktivitäten von Tschechen
werden entsprechend kritisiert. So fanden 1909 Protestversammlungen des Vereins
"Südmark" gegen die "fortgesetzte planmäßige Slawisierung
Niederösterreichs" statt. Ausführlich wird von einem Ausflug von Wiener
Tschechen in die Wachau berichtet, gegen den zwei Protestversammlungen
abgehalten werden. Dem tschechischen Abgeordneten Kramarsch wird vorgeworfen,
er sei schon mehr in Russland als in Österreich, Russland sei der Tschechen
Zukunft. Selbst bei einer Protestversammlung gegen den Steuerdruck Ende 1912
werden nationalistische Töne laut. Die Deutschen in Österreich und besonders im
Stammland seien es satt, heißt es im Zeitungsbericht, "die Melkkuh zur
Aufpäppelung anderer Nationalitäten in unserem Staate abzugeben." Alle
anwesenden Abgeordneten unterstützten die Resolution. Die Klage über die
traurige Lage der niederösterreichischen Gebirgsbauern, denen man 400.000 K
Unterstützung gewähren musste, wird mit dem Vorwurf verbunden, für die Slawen
habe man viel mehr Geld zur Verfügung gehabt.
Über das von den Sozialdemokraten geforderte Verhältniswahlrecht wird
erstmals Ende 1913 im Amstettner Gemeinderat diskutiert. Die bürgerliche
Mehrheit ist der Meinung, dass man mit einer solchen Änderung des Wahlrechtes
in erster Linie den slawischen Minderheiten Vorteile verschaffte. Die Einführung
des Verhältniswahlrechtes wird daher von der Mehrheit im Gemeinderat nicht
befürwortet. In welchem Ausmaß nationale Bestrebungen in der Bevölkerung
verankert sind, zeigt die Teilnahme am "Blumentag" des
"Deutschen Schulvereins" im Frühjahr 1913. Alle völkischen Vereine
sind vertreten, der Turnverein "Jahn", der Männerturnverein, der
Männergesangsverein Amstetten, der Männergesangsverein "Liederkranz",
die deutschen Handlungsgehilfenverbände und die beiden
"Südmark"-Ortsgruppen. Der Kampf gegen die Tschechen führte bisweilen
zu ausgesprochen skurrilen Vorgangsweisen. So beschloss der Gemeinderat der
Stadt Amstetten schon 1903, eine 2. Apotheke für die östlichen Stadtteile zu
beantragen. Das Verfahren zog sich sehr in die Länge. Ende 1910 urgierte der
Gemeinderat neuerlich die Errichtung einer 2. Apotheke.
Endlich, 1914, war es so weit. Die 2. Apotheke wurde von der
Landesstatthalterei genehmigt, der erstgereihte Bewerber war aber ein
Tscheche! Das erregte die Gemüter in den deutschnationalen Bevölkerungskreisen.
Das "Amstettner Wochenblatt" berichtete: "Dem Vernehmen nach
wurde als 2. Apotheke ein Tscheche an erster Stelle vorgeschlagen, weshalb, wie
uns mitgeteilt wird, die hiesigen Ortsgruppen der deutschen Schutzvereine im
Einvernehmen mit der Stadtgemeindevorstehung eine Abwehrbewegung einzuleiten
beabsichtigen." Unter dem Vorsitz von Bürgermeister Kubasta wurde ein
Komitee zur Abwehr der geplanten Verleihung einer zweiten Apothekerkonzession
an den Tschechen Gustav Sedlar aus Ungarisch-Brod gebildet. Es wurde berichtet,
dass diese Konzessionsverleihung nur durch Interventionen der Abgeordneten
verhindert werden könne. Eine energische Abwehr wurde beschlossen. Dazu sollte
am 8.2.1914 im Saale des Gasthauses Brunner eine große Protestversammlung
abgehalten werden. In der Einladung hieß es, kein Amstettner und kein Bauer,
der noch deutsch fühle, versäume es, an dieser Protestkundgebung teilzunehmen.
Zu dieser Versammlung kam es aber nicht, denn Herr Gustav Sedlar hatte in einem
Brief an den Rechtsanwalt Dr. Förster unter Ehrenwort versichert, dass er nicht
nur deutscher Erziehung, sondern auch deutscher Gesinnung sei. Außerdem war
aus völkischen Kreisen Wiens versichert worden, dass höchstwahrscheinlich ein
Irrtum vorliege. Die Protestversammlung wurde daraufhin abgesagt. Die
Einberufer mußten sich sogar den Vorwurf gefallen lassen, dass sie überstürzt
gehandelt hätten. Diese hinwieder rechtfertigten sich mit der Erklärung, dass
die Begehrlichkeit des Tschechentums nach Erwerbsmöglichkeiten in deutschen
Gebieten eine derartig notorische Tatsache sei, dass nie früh genug und nicht
stark genug der Ruf erschallen könne, der alle deutsch gesinnten Männer zur
Abwehr zusammenschließen solle. Die geplante Protestversammlung wurde sogar in
der Wiener "Arbeiter-Zeitung" in einem Artikel kritisiert. Über den
Lokalbedarf für eine 2. Apotheke wurde am 5.3.1914 im Gemeinderat debattiert.
Schließlich wurde der Antrag auf Befürwortung der Konzessionsverleihung mit
allen gegen zwei Stimmen angenommen. Der Bewerber Gustav Sedlar war aber wegen
der unliebsamen Vorfälle verärgert und zog seine Bewerbung zurück. Amstetten musste
noch bis 1923 auf seine 2. Apotheke warten.
Die Deutsch-Freiheitlichen gefielen sich immer wieder in argen Übertreibungen
und Angstparolen. So forderten sie in einer Wählerversammlung im November
1908, man möge nicht zuwarten, "bis in Amstetten der letzte deutsche
Eisenbahner verschwunden ist". Um der Behauptung, das Bahnpersonal
bestehe zu 35% aus Slawen, entgegenzutreten, übermittelte 1909 die k.k.
Heizhausleitung der Stadtgemeinde ein Verzeichnis über die Belegschaft. Danach
waren der Heizhausleitung 358 Angestellte unterstellt. Darunter waren 292
Deutsche aus Oberösterreich und Niederösterreich, der Steiermark, aus Salzburg
und Tirol; aus den slawischen Bezirken Böhmens stammten 14, aus den deutschen
9, aus Mähren 15, aus Kärnten, Krain usw. 13, aus Schlesien 12, aus Ungarn 2,
aus Bayern 1.
Beim Bahnhofumbau 1909 waren vorwiegend Kroaten (aus dem heutigen
Burgenland, dem damaligen Westungarn) beschäftigt. Als sie höhere Löhne
forderten, wurden sie kurzerhand entlassen und an ihrer Stelle
"Einheimische", sprich deutsche Arbeiter eingestellt. Auch unter den
Eisenbahnern selber machten sich nationale Bestrebungen bemerkbar. Am 19.7.1910
wurde in einer stürmisch verlaufenden Versammlung der "Reichsbund
deutscher Eisenbahner" gegründet. Als Zweck dieser Vereinigung wurde
angegeben, "das Eindringen slawischer Lohndrücker" zu verhindern und
besonders die wirtschaftliche Besserstellung der deutschen Eisenbahner zu
verwirklichen. Den Sozialdemokraten und ihren Gewerkschaften wurde vorgeworfen,
der Slawisierung Vorschub zu leisten. In diesem ständig schwelenden nationalen
Konflikt in Niederösterreich bildete die sogenannte "Lex Kolisko"
ein Kapitel für sich. Der NÖ Landtag hat sich zum ersten Mal im Jahre 1896 mit
dem Nationalitätenproblem des eigenen Landes beschäftigen müssen. Der Abgeordnete
Dr. Rudolf Kolisko brachte den Antrag ein, die deutsche Sprache als
ausschließliche Unterrichtssprache an allen Volks- und Bürgerschulen, soweit
sie öffentlich waren, für alle Zeiten festzulegen. Das Gesetz wurde aber dem
Kaiser nicht zur Sanktion vorgelegt. Von den Christlichsozialen wurde es damals
nicht ernst genommen. Durch dauernde Wiederholung dieses Gesetzesantrages wurde
der Inhalt der "Lex Kolisko" - auf Postkarten mit dem Bild des
Abgeordneten versandt und in den Zeitungen immer wieder diskutiert - über die
Parteigrenzen hinweg zum Allgemeingut der Bevölkerung. Im Jahre 1912 wurde die
"Lex Kolisko" zum 12. Mal im NÖ Landtag eingebracht, aber schon
während der Landtagssitzung ließ der Statthalter Bienerth keinen Zweifel offen,
dass es neuerlich zu keiner Vorlage kommen werde. Damit gaben sich aber die
deutschnationalen Kreise nicht zufrieden. Aus Vertretern der "rein
deutschen" Kronländer Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und
Vorarlberg wurde ein deutscher "Wehrausschuss" gebildet, der sich in
einem Aufruf vom 1.6.1913 an die Bevölkerung wandte, mit der Bitte durch eine
Unterschrift auf einem Gesetzesantrag zu erklären, dass die "Lex
Kolisko" Gesetzeskraft erlangen solle, wonach in den vier rein deutschen
Kronländern für alle Zeiten die deutsche Sprache als Unterrichtssprache an
sämtlichen öffentlichen Lehranstalten festgelegt werden solle. Auch in
Amstetten wurde ein solcher Wehrausschuss gebildet, Bürgermeister Kubasta
übernahm
den Vorsitz. In der Gemeinderatssitzung vom 12.6.1913 stellte der
Rechtsreferent Dr. Teutschmann, ein führender Vertreter der
Deutsch-Freiheitlichen in Amstetten, den Antrag, die Unterschriftenaktion
zugunsten der "Lex Kolisko" zu unterstützen und die Kosten, die nicht
durch freiwillige Spenden aufgebracht werden könnten, durch die Gemeinde zu
ersetzen. Es kam zu einer lebhaften Debatte, in deren Verlauf der
sozialdemokratische Gemeindebeirat Ludwig Eisel meinte, auch die Sozialdemokraten
seien Deutsche, sie fassten aber ihr Deutschtum anders auf als die bürgerlichen
Parteien, und wenn sie Slawen in ihren Reihen hätten, so hätten solche auch die
Christlichsozialen. Gemeinderat Zerdik, führender Vertreter der
Christlich-sozialen Partei, erklärte, auch die Christlichsozialen seien eine nationale
Partei. Bei diesem Wettstreit, wer die nationale Sache am besten vertrete, ist
es nicht verwunderlich, dass bei der folgenden namentlichen Abstimmung der
Antrag Dr.Teutschmanns einstimmig angenommen wurde. In der Folge wurde die
Unterschriftenaktion in Amstetten durchgeführt. Von etwa 8000 Einwohnern
unterschrieben 3309, was von den Betreibern als "ziemlich
befriedigend" bezeichnet wurde. Es gab aber auch Stimmen, die das Ergebnis
als weniger gut ansahen.
Mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges, bei dem die Männer aller Nationen
der Donaumonarchie aufgerufen sind, für "Gott, Kaiser und Vaterland"
ins Feld zu ziehen, verliert der Nationalitätenkonflikt vorerst seine
Bedeutung. Nach dem Zusammenbruch des Vielvölkerstaates und der Ausrufung der
Republik Deutsch-Österreich gewinnt dann eine andere Forderung an Bedeutung.
Alle großen Parteien sind sich in dieser Forderung einig, nur die Kommunisten
und die Legitimisten lehnen diese Bestrebungen ab. Einen innerösterreichischen
Nationalitätenkonflikt gibt es nur in Kärnten. Was jedenfalls bleibt, ist ein
weitverbreiteter Antisemitismus. Die tragischen Folgen sind bekannt.
Quellen:
"Amstettener Wochenblatt" 1893 - 1914
Ratsprotokolle des Marktes bzw. der Stadt Amstetten
Dr. Leopoldine Pelzl: "Amstetten unter den Bürgermeistern des 19.
Jahrhunderts"
Dr. Karl Gutkas: "Geschichte des Landes Niederösterreich" Band
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