Nr.91 - 1. November 1979 - 8. Jahrgang
UNSER VOLKSLIED - DIE SEELE DES VOLKES
(verfasst von Prof. Josef Biberauer)
Um die Jahrhundertwende schrieb der
Schriftsteller K. Bormann folgende Gedanken nieder: "Einst war in
deutschen Landen das Volk so reich an Sang, dass dir auf Weg und Stegen sein
Lied entgegenklang. Im Liede hat's gebetet, im Liede hat's geweint, beim Mahle
wie bei Gräbern zum Sange sich vereint. Der Bauer hinterm Pfluge, der Hirt im
Wiesental, die Mädchen an dem Spinnrad, sie sangen allzumal; und wo die Kinder
spielten, da lenkt' ein Lied die Lust, und wo die Burschen zogen, da klang's
aus voller Brust!" So hieß es in einer Zeit, in der es noch kein Radio und
kein Fernsehen gab und das Kino die ersten Gehversuche machte. Ungefähr zur gleichen
Zeit schrieb Bischof Keppler in seinem Buche "Mehr Freude" -
"Weil das Volkslied ausstirbt, ist wieder ein Stück Freude am Volksleben
dahin, und weil die Freude im Volksleben fehlt, will das Volkslied nicht mehr
gedeihen." Fürwahr, ein tragischer Teufelskreis.
Wie stehen wir heute zum Volkslied, hat es
uns schnelllebigen Menschen im Zeitalter der Technik noch etwas zu sagen?
Singen ist gehobene Sprache und ist so alt
wie die Menschheit selbst. Wissenschaftler haben festgestellt, dass es zu allen
Zeiten neben dem kultischen Gesang den Volksgesang gegeben hat.
Das Bild der Mutter, die ihr Kindlein mit
einem Schlummerlied einschläfert, ist uralt. Liedforscher haben festgestellt, dass
beispielsweise die Melodie des - auch heute noch volkstümlichen - Wiegenliedes
"Heidi pupeidi" sich viele Jahrhunderte zurückverfolgen lässt. Zum ersten
Mal 1819 als Wiegenlied aus Niederösterreich in Noten aufgezeichnet, scheint
nach Angaben von Dr. Josef Klima die Melodie unter der Bezeichnung
"Aria" bereits in einer Lautentabulatur des Stiftes Seitenstetten aus
dem Jahre 1730 auf.
Neben vielen Kinder- und Reigenliedern,
die von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurden, nimmt das
Liebeslied im Volke wohl den breitesten Raum ein, konnte man sich doch,
gleichsam durch die Blume, im Lied viel leichter ausdrücken als im Sprechen.
Wer kennt nicht die vielen Lieder des Mädchens am Spinnrad, die erfüllt sind
von der Sehnsucht nach dem Liebsten? Zahllos sind die Volkslieder, welche die
innigen Beziehungen zwischen Bursch und Mädel besingen. Aus urwüchsiger
Lebensfreude entwickelten sich schon vor Jahrhunderten die vielen Jodler,
Jauchzer und Almschreie. Aus dem bunten Zusammensingen kam es zu einer
alpenländischen Mehrstimmigkeit, die in ihrem Aufbau älter als die Mehrstimmigkeit
in monastischen und höfischen Kunstkreis ist. Die Terz, welche in der ars
antiqua als Dissonanz verpönt war, ist zusammen mit ihrer Umkehrung, der Sext,
ein wesentlicher Zusammenklang in der Mehrstimmigkeit des alpenländischen
Volksliedes, die sich wie folgt gestaltet: Eine erste Stimme beginnt, eine
zweite folgt in der Unterterz, dazu übersingt eine dritte Stimme, meist eine
Männerstimme, und ergänzt damit den Dreiklang; eine reizvolle Dreistimmigkeit
damit gegeben. Singt dazu noch ein Bass die Fundamentalbässe, so ist die
beliebte Vierstimmigkeit gegeben.
Groß ist auch die Zahl der Lieder um den
Jahreskreis um Frühling, Sommer und Herbst. Das Volkslied besingt aber auch
Vergänglichkeit und Tod, und es gibt eine unüberschaubare Zahl von
Totenliedern, Litaneien und Gesängen über die armen Seelen.
Zahlreiche Volkslieder beziehen sich auf
den Beruf und die Arbeit. Jäger, Holzknechte, die Almwirtschaft mit der
hübschen Sennerin, aber auch das Wild und die Vogelwelt (Nachtigall), sie alle
kommen im alpenländischen Volkslied immer wieder vor. Daneben gibt es die
vielen Spottlieder über einige Berufe, beispielsweise die Schuster, Schneider,
Maurer.
Ein besonders sangesfreudiges Volk waren
auch die Schiffer und Flößer auf der Donau (Wachauer Schifferlied), sie
brachten viele Lieder aus der westlichen Bergwelt Osterreichs nach Wien. Die
Wiener Volksmusiker Josef Lanner, Johann und Josef Strauß wurden dort angeregt,
das wertvolle Liedgut zu verarbeiten; aus dieser Inspiration entwickelte sich
dann der berühmte Wiener Walzer. Das Volkslied wurde auch von großen
Komponisten in ihr Schaffen einbezogen. So finden wir ein burgenländisches
Volkslied in Haydns großem Oratorium "Die Schöpfung". Johannes Brahms
umkleidete zahlreiche Volkslieder musikalisch mit köstlichen Einfällen. Unser
Volkslied bewegt sich also in bester Gesellschaft; und wir können uns stolz zu
ihm bekennen.
Wie stehen nun wir zum Volkslied, hat es
auch heute noch Wert und Berechtigung? Ein Druck auf einen Knopf genügt, und
wir können Musik, auch unser bescheidenes Volkslied, in perfektester Ausführung
über Radio, Fernsehen, Kassette und Schallplatte hören; hat unser oft
unvollkommenes Singen da noch einen Sinn?
Der aufmerksame Beobachter wird merken, dass
einer musikalischen Berieselung durch die Massenmedien, mögen sie noch so
raffiniert manipuliert sein, doch etwas fehlt, die Seele. Welche seelische
Ausstrahlung empfinden wir dagegen beim Anhören des Gesanges froher,
unbelasteter Kinder! Man wird natürlich die Tonkonserve bejahen, sie kann ein wertvolles
Erziehungsmittel sein, sie kann uns den richtigen Weg weisen zu aktivem Singen;
ein beseeltes Singen kann aber nur der Mensch ausführen.
Immer weitere Kreise suchen über das
Volkslied wieder musikalisch aktiv zu werdend. Ein Sichfinden in einer singenden
Gemeinschaft führt zu einem musikalischen Erlebnis, welches an die Quellen
reiner Freude und echter Lebenswerte führt.
Die Rundfunksendung "Sing mit"
bringt viele wertvolle Anregungen und hat einen weiten Hörerkreis, Volkslieder
aus dem ganzen Bundesgebiet werden in den verschiedensten Besetzungen
dargeboten. Spontan, ohne zu proben, wird mit beneidenswerter Begeisterung
echtes Liedgut vorgestellt.
Das österreichische Volksliedwerk und das
niederösterreichische Heimatwerk veranstalten Kulturwochen, welche größtenteils
auf das Volkslied abgestimmt sind. Zwei Familiensingwochen in Hohenlehen waren
überbesucht, und man will nächstes Jahr noch eine dritte veranstalten. Jung und
Alt, teilweise ganze Familien finden sich dort zu einem wertvollen Erlebnis um
das Volkslied zusammen.
Die Früchte der Bemühungen um die Rettung
des Volksliedes werden bereits deutlich sichtbar. Sowohl in der Stadt wie auch
auf dem Lande bilden sich immer mehr Kreise, besonders unter der Jugend, welche
die Freude am gemeinsamen Singen mit dem Volkslied finden.
Besonders wertvolles Liedgut entwickelte
sich um die kirchlichen Festkreise. Die stille Zeit um den Advent und ganz
besonders das Weihnachtsfest mit seiner Mystik gaben die Anregung zu vielen
Volksliedern.
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