Nr. 176 - 1. Dezember 1986 - 15. Jahrgang
MOSTVIERTLER
ADVENT IM WANDEL DER ZEITEN
(von Prof. Elisabeth Kraus-Kassegg)
Nur alte Leute können berichten, was der
Advent bis zum ersten großen Krieg bedeutet hat. Die Ortschaften und Einzelhöfe
versanken im Nebel der immer kürzer werdenden Tage. Auf den Straßen sah man ab
und zu hochbepackte Wagen, die Holz für Bäcker und Wirte heranbrachten. Über
der Landschaft lag die große Stille nach schwerer Erntezeit. Mensch und Vieh
ruhten. Mancher Bauer schrieb auf, was sich über das Jahr in der Familie und in
der Wirtschaft begeben hatte. Die alten Leute saßen in engen Stuben und dachten
daran, dass sie noch einmal ein Jahr überlebt hätten.
Und dann wachte in den Menschen eine
innere Unruhe auf, wenn der Herr Pfarrer in der Kirche den ersten Adventsonntag
ankündigte und die Chorsänger das uralte Lied anstimmten: "Tauet, Himmel,
den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab ...."- Die Roratemessen waren eine
heilige Pflicht, sie fanden um sechs Uhr früh statt, und aus jedem Haus wohnte
wenigstens eine Person der heiligen Handlung bei - oft hatte man einen langen
Weg auf sich genommen. In der Kirche war es kalt und finster, nur auf dem Altar
brannten einige Kerzen, und manche Hausmutter brachte ihren Wachsstock mit, um
bei dessen Licht ein paar Gebete im "Betbuch" lesen zu können.
Aber da war schon das erste Fest dieser
stillen Zeit: Sankt Barbara wurde verehrt und um Fürsprache in verschiedenen
Anliegen angefleht. Von den Kirschbäumen waren schon die Zweige abgeschnitten,
die man nun in ein hohes Glas mit Wasser steckte, das stellte man auf ein Bord
in der Nähe des Herdes. Die Zweige wurden eifrig beobachtet: Wenn sie bis
Weihnachten blühten, könnte ein Mädel mit Heirat rechnen Sankt Nikolaus
brachte Aufregung unter die Schuljugend: der heilige Mann kam mit seinem
höllischen Begleiter in jedes Haus, um nach dem Rechten zu sehen und ein mildes
Strafgericht über die Jugend zu halten; dessen Abschluss waren immer Obst und
einige Süßigkeiten. Alle atmeten auf, wenn dieser kritische Besuch vorbei war.
Die würdevollen Eltern haben oft eine schlimme Strafe abgewendet.
Da es damals noch kein elektrisches Licht
gegeben hat, war die Beleuchtung mäßig. Zwar war der Kienspan noch immer in
Gebrauch, aber die Petroleumlampe und das Öllicht waren überall zu finden. Die
Stallarbeit wurde früh beendet. Die Hausmütter suchten alte Backrezepte hervor
und trafen die Vorbereitungen, die viel Geduld erforderten. Haustöchter und
Mägde holten die Spinnräder hervor. Nach dem einfachen Abendessen wurde von
allen Hausgenossen vor dem Herrgottswinkel der freudenreiche Rosenkranz
gebetet, und dann setzten sich die Frauen an die Spinnräder.
Alte Begebenheiten, Sagen und
Kriegserinnerungen wurden erzählt. Manches dieser Ereignisse ist nur durch die
vielschichtigen Mitteilungen an den Spinnabenden im Gedächtnis des Volkes
geblieben.
Die Landschaft versank immer mehr in nebelige
Dunkelheit. Ein strenger Ostwind fegte vom Gebirge her und vom Sonntagberg
herab über das stille Mostviertel dahin, das dem winterlichen Frost
preisgegeben war.
Man vermied es, an späten Abenden
unterwegs zu sein. Die Kinder zitterten ihren damals noch sehr bescheidenen
Geschenken entgegen. Nur in Bürgerhäusern und in jenen Familien, die über die
Enge früherer Lebenshaltungen hinausgewachsen waren, wurden die Kinder reich
begabt.
In den Dörfern begann mit dem 15. Dezember
der uralte Brauch des Herbergsuchens; an neun Abenden suchte Maria für ihr Kind
in neun dazu bestimmten Häusern Herberge. Manche kleine Heimlichkeit unter
jenen, die sich liebten, war von viel schüchterner Poesie umgeben. In den
Häusern duftete es nach dem frischen Kletzenbrot, und die ersten Speckseiten
und Schinken hingen wie jedes Jahr in der Selche. Die Herzen der Menschen waren
voll heimlicher Sehnsucht.
In den vielen tausend Obstbäumen des
schlafenden Landes schliefen die Blüten in den winzigen Knospen dem steigenden
Licht und dem neuen Leben entgegen .... So war es vor hundert Jahren.
Und wie ist es heute?
Wie schnell hat sich der Frieden von
damals in Krieg, Not und Tod verwandelt. Das große Reich wurde das Opfer eines
beispiellosen Völkerhasses, aus dem sich nach blutigen Jahren ein Gebilde
erhob, das man Frieden nannte. Die gepeinigten Menschen der Heimat gedachten
der Toten, die in fremder Erde ruhten, und begannen wieder auf dem Acker und in
der Werkstatt zu arbeiten. Zertrümmerte Völker lebten in zertrümmerten Staaten.
Doch in den verstörten und innerlich zerstörten Menschen lebten eine geradezu
unheimliche Kraft und die rastlose Fähigkeit, die Ruinen wegzuschaffen
und zerstörte Dome und Häuser zu renovieren oder ganz neu zu gestalten.
Und die alten und neuen Bauten sollten
aussehen wie früher und mit dem Geiste der Großväter erfüllt werden. Es wurde
alles ganz anders. Was man auch baute - es wurde alles ganz anders als zur Zeit
der Großväter. Und als man sich auf die alten Adventbräuche besann und diese
wieder beleben wollte, da wurde auch daraus etwas ganz anderes. Was war
geschehen? Das, was man Wissenschaft und Fortschritt nennt, hatte seine
Herrschaft angetreten. Im Laufe von wenigen Jahrzehnten, als man das
"Alte" weggeräumt und vergessen hatte, ist an seine Stelle das
"Neue" getreten. Alles ist neu geworden - auch bei den
Menschen.
Statt der schweren, knarrenden, mit
Pferden bespannten Wagen, die den winterlichen Vorrat an Lebensmitteln und Holz
in die größeren Ortschaften brachten, sind Autos jeder Größe getreten. Selten
befördert eines Holz, denn nun heizt man mit Öl vom persischen Golf.
Lebensmittel aus allen Gegenden der
Erde werden in die Kühlhäuser der
Geschäfte gebracht, um für die Feiertage griffbereit zu sein. Die Kinder, die
schon lange weder an Nikolaus noch Christkind glauben, erwarten viele bunte
Geschenke. Sie werden mit Autobussen in die modernsten Schulen gefahren und
bringen mit ihren Ungezogenheiten manchen Busfahrer zur Verzweiflung.
In den Schaufenstern glitzert und glänzt
schon bald nach dem Totengedenken der Weihnachtszauber. Man glaubt nicht mehr
an Gott, aber er gehört halt zum Brauchtum und zum Geschäft die Jugend
ist voll Übermut.
Für sie hat sich das irdische Paradies des
Wintersportes aufgetan, und dieses hat sich von den Eltern bis zu den
Dreijährigen wie ein Zauberkreis entwickelt. Man muss dazu in die Berge fahren,
wo es genug Schnee gibt. Zuerst hieß es, man tue dies für die Gesundheit. Aber
davon ist jetzt wenig die Rede. Wo es nur eine steile Leiten mit Schnee gibt,
werden Rennen veranstaltet, und wer auf den Bretteln gut herunterrutschen kann,
für den gibt es bald Preise und Pokale. Und oft auch Knochenbrüche aller Art.
An jedem großen Sporttag müssen die Ärzte auf alles gefasst sein. Aber man ist
ja versichert. Die Rennstrecke ersetzt die wunderbare Schönheit der Natur, die
man kaum noch bemerkt.
Advent- und Weihnachtsmärkte sind an der
Zeit. In den Städten des Mostviertels wird für alle Altersklassen das
"Passende" ausgelegt. Man braucht kaum nachzudenken, alles wird
wunschgemäß angeboten. Das erbarmungslose Neonlicht hat den Stern von Betlehem
abgelöst. Die ahnungslosen Menschen sind von den großartigen Gaben der Neuzeit
hoch befriedigt und begreifen es gar nicht, wie sie ohne Ölofen, Neonlicht,
Waschmaschine und Geschirrspüler leben konnten. Und was noch alles wird uns der
Fortschritt bescheren!
Es gibt wohl da und dort Unbehagen über
den wunderbaren Fortschritt, aber man darf beileibe nicht davon sprechen, weder
am Wirtshaustisch noch vor der Jugend. Nach dem Krieg war es, als wenn sich die
Menschen immer mehr von der erde trennten, die sie seit Jahrhunderten bebaut
und gepflegt hatten. Die reichen Obstkulturen, von denen das Land hat, verloren
ihre Bedeutung, und mancher Bauer schlägerte die Bäume, die reiches Edelobst
trugen, die von Vätern und Großvätern angelegt worden waren. In den Kaufhäusern
konnte man Obst aus allen Gegenden der Erde kaufen, von Kalifornien bis
Südafrika steht alles für den Europäer, also auch für den Österreicher, bereit.
Dazu kommen noch alle Leckerbissen, die Erde und Meer bieten. Für Vergnügen und
Sport ist überall gesorgt.
Ein Zeichen der ungeheuren Veränderung in
Brauchtum und Sitte, die man seit dem letzten Krieg feststellen kann, sind die
Weihnachtsmärkte, die bereits Anfang November sich auftun und die kaum in einem
Ort fehlen. Ihr steifer Glanz will weniger auf den geistigen Gehalt dieses
Festes Bezug haben als das neueste Spielzeug zur Schau stellen. Es ist aus
Plastik und passt sich von Jahr zu Jahr den neuesten Erfindungen, besonders
technischer Art, an. Bei der jüngsten Jugend ist die Puppe weithin von den
Stofftieren abgelöst worden. Die Puppe setzt den Sinn für Zärtlichkeit voraus,
während das Stofftier der Vergröberung des Lebens angepasst hat.
Weithin aber sind es Bäckereien und
Konditoreien, die dem Weihnachtsfest noch gerecht werden. Welcher Aufwand wird
mit Sankt Nikolaus und seinem schwarzen Begleiter veranstaltet! Wenn auch
vieles davon aus Großbäckereien geliefert wird, so muss doch erwähnt
werden, dass das alte Obstland Mostviertel seit langem eine ertragreiche
Bienenzucht kultiviert hat. Der Honig als Grundstoff für den festtäglichen
Lebkuchen hat dieses Backwerk in unserer Gegend ganz besonders gut geraten
lassen. Manche Hausfrau hütet hier noch uralte Lebkuchenrezepte, und mancher
Bäcker besinnt sich auf ebenso uralte Rezepte und sucht die köstlichen alten
Model hervor, .... wenn er diese nicht unvorsichtigerweise einem gierigen
Sommergast verkauft hat.
Der Martinitag gilt auch heute noch als
jenes Fest, bei dem es der fetten Martinigans an den Kragen geht. St. Martin
sperrte früher auch den Tanz ein: Die Tanzunterhaltungen waren während der
ganzen Adventzeit verboten. Der heilige Charakter des nahen Festes wurde damit
hervorgehoben. Diese Haltung hat sich weitgehend geändert.
Es hat sich ja auch das Geschenk völlig
geändert: Jedes Schaufenster belehrt uns darüber. Doch betrachten wir noch die
Bekleidung im ländlichen Raum. Der Bauer bevorzugte einst die lodene Kleidung
mit der schönen Weste und den Silberknöpfen daran. In den eisigen Wochen des
Hochwinters trug der Bauer, und nicht nur er, den Schladminger Überrock in
meist graumelierter Farbe. Der schwere Lodenrock ließ keine Kälte durch.
Allgemein üblich war der Ausseer Männerhut und von den Schuhen bis zum Knie
trug man lodene Überhackl, die die Beine besser vor Kälte schützten als
Stiefel. Heute kleidet sich das Landvolk genau so modisch wie der Städter.
Noch größere Veränderungen hat die Tracht
der Frauen erfahren. Wer erinnert sich noch an die Bäuerinnen, die zum
schwarzen Kleid das kunstvolle schwarze Seidentuch trugen. Dieses Gewand war
ihnen vorbehalten, und an hohen Festtagen trug man dazu eine wertvolle Brosche.
Das übrige junge und ältere Weibervolk war halb städtisch gekleidet, das
eingebürgerte Dirndlkleid gehörte dem Alltag. Heute ist die Tracht zu einem
Modeartikel geworden. Einige Trachtenkundler haben aus alten Vorbildern
außerordentlich schöne und geschmackvolle Festtrachten "erfunden",
die keineswegs an einen Stand gebunden sind: Sie können von jeder Frau getragen
werden, und man kann je nach kostbarer Ausführung auch zu jedem offiziellen Anlass
damit erscheinen. Manche der ländlichen Damen trägt dazu noch eine Goldhaube
auf den wohlfrisierten Haaren. Sommergästinnen aus fernem Land erwerben eine
oft kostbare Tracht, um daheim damit zu paradieren. Einfach in Farbe und Form
sind die Arbeitsdirndln, darin die jungen Mädel sehr flott und hübsch aussehen.
Dieses Thema ist unerschöpflich, man kann es nur streifen. Aber selbst ein
einziger Streifen signalisiert die ungeheuren Veränderungen, die seit dem
letzten Krieg stattgefunden haben.
Da war ein Volk, das nach dem Krieg in Not
und Elend versunken, seine ganze, oft letzte Kraft zusammenraffte und von neuem
zu arbeiten und damit zu leben begann. Die Äcker trugen Korn, an den Feldwegen
entlang trugen die Obstbäume reichlich und trugen immer wieder den Namen der
Landschaft den Menschen ins Herz. Und an den Rändern dieser Landschaft erhob
der Herr und Dämon der neuen Zeit sein herrisches Haupt: Die Eisenindustrie.
Dieser neue Herr verhieß Arbeit und Brot und sozialen Aufstieg. Er holte die
Bauernsöhne und die Knechte von den Höfen, wo plötzlich die Arbeiter fehlten.
Aber der neue Herr sorgte für viel Geräte und Maschinen, die die Arbeit
erleichtern.
Und es kamen Jahre des Überflusses, und
man glaubte in einem Paradies zu leben, in dem die irdischen Nöte ständig
abnahmen. An die Stelle des uralten Begriffes sparen war ein neuer Begriff
getreten: verbrauchen. Das gefiel den Menschen gar sehr, denn endlich konnte
man nach Herzenslust in den Vorräten der großen und kleinen Welt wühlen. Man
wollte es nicht wahrhaben, aber endlich mußte man einsehen, dass auch dieses
Paradies keine Dauer hat. Der neue Herr dieser Welt ist zwar mächtig, aber
nicht allmächtig.
Die Industrie erzeugte Waren, die keinen
Käufer fanden. Unzählige Menschen wurden aus der Sicherheit ihres Daseins
gerissen, und die Arbeitslosigkeit erhob sich wie ein schwarzes Gespenst. Die
Natur, die durch Jahrtausende das Leben ermöglicht hat, wurde und wird nun von
jenen Giften zerstört, die der Mensch erfunden hat, um das Leben zu erleichtern
.
Und wieder ist ein Advent gekommen, die
Zeit der Erwartung. Was erwarten die Menschen? Alle ihre stolzen Bemühungen
scheinen in den Abgrund zu führen. Man hat es so weit gebracht, dass ein
einziger Knopfdruck Tod und Verderben das Los unseres Planten sein kann. Die
Länder, in denen die sogenannte Kulturmenschheit wohnt, starren von Waffen, die
kein überleben gewähren. Auf der anderen Seite werden Menschen "erzeugt",
die keine Mutter mehr brauchen, weil das dazu Nötige die Wissenschaft besorgt,
die auf dem Weg zum "neuen" Menschen ist. An die Stelle der Mutter
ist weithin die "Bezugsperson" getreten.....
Advent ..... was erwarten wir, auf wen
warten wir noch? Ob wir uns nicht an den Einen erinnern sollten, der vor bald
zweitausend Jahren in einem Stall zur Welt kam? Das Jahr geht dem Ende zu. Es
war ein Jahr erschreckender Ereignisse. Das Menschenherz zittert vor dem, was
auf uns zukommt. Jedem Ende folgt ein neuer Anfang ...... was für ein Anfang
wird es sein?
Über die Hügel und Täler des Mostviertels,
seine stattlichen Höfe, schmucken Dörfer und schönen Städte, streicht der
steife Winterwind. Er stößt vom Sonntagberg herab, vom Ötscher herüber. Mögen
die Jungen nicht nur an Spiel und Sport, die Alten nicht für Bitterkeit denken.
Lasst uns, bevor es zu spät ist, etwas
ganz Unmodernes tun: Lasset uns beten!
Kommentare
Kommentar veröffentlichen