Nr. 203 - 15. November 1988 - 17. Jahrgang
Das Schicksal der Amstettner Juden
(Josef Freihammer)
Die Gründung einer israelitischen Kultusgemeinde Amstetten erfolgte
1881. Die Rabbinerstelle war bis 1922 laufend besetzt, ab 1922 wurde die israelitische
Kultusgemeinde Amstetten durch einen Stellvertreter in St. Pölten betreut, dann
durch die Matrikelführer mit Sitz in Kemmelbach und Purgstall an der Erlauf.
Ein Betraum befand sich anfangs in der "Sommervilla" (Besitz der
jüdischen Kaufmannsfamilie Sommer, jetzt Hamerlingstraße 6), später im Hause
Ardaggerstraße 8 (damals Besitz des jüdischen Kaufmannes Schmitz aus Oed,
heute Haus Funke). Dieser Betraum wurde bei den Ausschreitungen in der
sogenannten "Reichskristallnacht" vom 9. zum 10. November 1938 in
Brand gesteckt und verwüstet. Der Bau einer Synagoge war an der Ecke
Eggersdorferstraße-Graben geplant, kam aber infolge der nationalsozialistischen
Machtergreifung nicht mehr zustande.
Der Antisemitismus war in Österreich vor hundert Jahren weitverbreitet,
er hatte religiöse und wirtschaftspolitische (Lueger) und rassistische
(Schönerer) Wurzeln. Diese Einstellung war auch in Amstetten in weiten
Bevölkerungsschichten vorhanden. 1921 organisierte sich der Antisemitismus im
Antisemitenbund, der von Mag. Wolfgang Mitterdorfer und Hans Höller gegründet
wurde.
Ein Kaufvertrag vom 4.7.1877, der den Erwerb des Hauses Hauptplatz 38
durch Marcus und Sara Sommer nachweist, ist der erste dokumentarische Hinweis
auf die Anwesenheit eines jüdischen Bewohners in Amstetten.
Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich am
12.3.1938 verschlechterte sich die Lage der Juden in Amstetten schlagartig.
Schon am 13. 3. 1938 wurde Dr. jur. Kurt Kerpen, den man als Kommunisten
bezeichnete, in Schutzhaft genommen. Der jüdische Ziegeleibesitzer Moritz Weiß,
tschechoslowakischer Staatsbürger, wurde am 21. 3. 1938 nach Bratislava
abgeschoben.
Die wirtschaftliche Lage der jüdischen Kaufleute wurde angesichts der
gegen sie verhängten Boykottmaßnahmen bald prekär. Arische Bewohner, die in
jüdischen Geschäften kauften, wurden in der Lokalpresse schonungslos
angeprangert.
Unter diesem Druck verkauften die jüdischen Kaufleute ihre Geschäfte und
sonstigen Liegenschaften; die meisten Amstettner Juden wanderten aus.
Der erste war Dr. jur. Kurt Kerpen. Seine Eltern Samuel und Sopie Kerpen
betrieben im Hause Schulstraße 6 einen Spirituosenhandel. Dr. Kerpen emigrierte
bereits am 8.4.1938 in die USA, lebte dann in New York. Sopie Kerpen
übersiedelte am 22.12.1938 nach Wien. Klementine Surkin hatte in der
Linzerstraße 5 ein Herrenbekleidungsgeschäft. Sie emigrierte am 29.9.1938 mit
ihrer Mutter (Pollak) und ihrer Schwester Dora Pollak nach England, wurde
Stubenmädchen und Köchin bei einem englischen Lord. Sie lebt jetzt, 92-jährig,
in Los Angeles.
Dora Pollak machte eine Karriere als Opernsängerin.
Leo Surkin, geschiedener Gatte von Klementine Surkin, emigrierte nach
China und kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück.
Ludwig Surkin, Sohn von Leo und Klementine Surkin, besuchte die
Volksschule und Hauptschule in Amstetten und die Eisenfachschule in
Waidhofen/Ybbs. Sommer 1938 wanderte er nach Palästina aus, wurde Hilfsarbeiter
und Mechaniker in einer Orangenplantage, Hotelangestellter, Musiker (er leitet
ein kleines Orchester), war 1948 als israelischer Untergrundkämpfer gegen die
Araber im Einsatz. 1962 ging er nach den USA, lebt jetzt in Los Angeles,
besitzt dort zwei Fabriken.
Max und Rosa Pialla, Linzerstraße 5, betrieben ein Restengeschäft und
einen Maschinenhandel, Lewingstraße 5. ihre Emigration führte sie zunächst nach
Bolivien, dann in die USA, zuletzt in Los Angeles.
Die Tochter Lieselotte emigrierte nach England, ihr Bruder Hainrich nach
Palästina. Heinrich Pialla wurde von den Engländern in Eritrea zum Piloten
ausgebildet und flog Bombeneinsätze nach Deutschland. Nach dem Krieg war er
Flieger in Israel, dann 25 Jahre lang Flugpilot bei der AUA. Jetzt wohnt er in
Los Angeles.
Siegfried und Ilka Geiduschek führten ein Schuhgeschäft, Rathausstraße
3. Beide emigrierten nach Tel Aviv, die Tochter Margarete nach England.
Die größte jüdische Familie in Amstetten waren die Greger. Adolf Greger
(1862) und seine Frau Rosa (1870) übersiedelten mit ihrer Tochter Hermine
(1894) am 1. 8. 1939 nach Wien. 1940 wurden sie in ein Konzentrationslager
deportiert. Adolf und Rosa Greger wurden in Theresienstadt ermordet, Hermine
Greger kam wahrscheinlich in Auschwitz ums Leben.
Die drei Söhne Wilhelm (1895), Anton (1900), Dr. med. Ernst (1902) und
Friedrich Greger (1906) emigrierten.
Wilhelm ging nach Schanghai und machte dort einen Schuhhandel auf. 1946
kehrte er nach Wien-Döbling zurück, starb 1948. Anton emigrierte 1939 nach
Palästina, kehrte 1949 nach Amstetten zurück und starb 1973.
Dr. Ernst Greger: Emigration nach den USA, Arzt in Los Angeles. Starb
dort am 8.5.1986.
Friedrich Greger: Emigration nach Palästina, wurde Hilfsarbeiter im
Straßenbau, war dann in einer Diamantenschleiferei tätig. Seine erste Ehe mit
einer Christin wurde 1938 getrennt. Er heiratete in Palästina ein zweites Mal,
Sara Bär aus Litauen. Am 17.8.1949 wurde ihnen Sohn Hermann (Zwi) geboren. Die
Familie ging 1954 nach Amstetten. Sara Greger starb hier 1965, Friedrich Greger
1975. Hermann Greger wohnt in Amstetten, er ist in den Böhler-Ybbstal-Werken
beschäftigt als gelernter Maschinenschlosser und Werkzeugmacher.
Hirschler Paul (1894, röm.kath.) betrieb im Hause Schulstraße 18 eine
Dentistenpraxis. Er war jahrelang Chorleiter des Gesangvereins
"Liederkranz". Er übersiedelte am 6.10 1938 zuerst nach Baden, dann
nach Wien und betrieb in der Kochgasse eine Dentistenpraxis. Kurz vor
Kriegsende wurde er denunziert und ins KZ Dachau gebracht, wo er umgekommen
ist. Leopold Schlesinger hatte im Hause Hauptplatz 45 (Eigentum Rameder) ein
Schuhgeschäft. Er wurde wegen fahrlässiger Krida verurteilt und am 25. 5. 1938
ins KZ Dachau gebracht. Nach einem Jahr emigrierte er nach China. Dort brachte
er es zum Direktor einer Schuhfabrik. Nach dem Einmarsch der Kommunisten 1949
ging er nach Australien.
Rudolf Wozasek (1895) und sein Bruder Hermann (1896) betrieben in der
Eggersdorferstraße einen Häute- und Fellehandeln. Hermann W ozasek emigriert
mit seiner Gattin Maria (1901) in die USA. Nach schwierigen Jahren machten sie
sich in der angestammten Branche in New York selbständig. Auch Rudolf Wozasek
ging in die USA.
Der Sohn Georg Wozasek (1925) wurde 1938 vorerst nach Frankreich
geschickt und folgte erst von dort den Eltern nach New York. Von 1943 bis 1945
war er bei einer amerikanischen Gebirgsjägerdivision in Italien im Einsatz.
Nach dem Krieg studierte er Verfahrenstechnik an der Columbia-Universität in
New York. 1951 kehrte er nach Österreich zurück. Derzeit ist Dipl. Ing. Georg
Wozasek in führender Position bei der Neusiedler AG in Hausmening tätig. Er
wohnt mit seiner Familie in Linz, ist Vorsteher der dortigen israelitischen Kultusgemeinde.
Rudolf Wozasek starb 1971 bei einem Besuch in Linz.
Iliya Karl Bolotinsky, geb. 21.3.1892 in Simferopol auf der Halbinsel
Krim, soll mosaischen
Bekenntnisses gewesen sein. Seit 8.10.1918 war er in Amstetten als
Kraftfahrer. Er ließ sich
am 30.10.1918 nach röm.kath. Ritus taufen. Im Oktober 1941 entdeckten
die nationalsozialistischen
Behörden seine mosaische Herkunft. Die vom Landrat geführten Erhebungen
erbrachten aber keinen Beweis für diese Tatsache. Bis Kriegsende war er beim
Arbeitsamt als Kraftfahrer und Dolmetsch tätig. Nach dem Krieg verwendete ihn
auch die sowjetische Besatzungsmacht als Dolmetsch. 1948 wurde er von der
sowjetischen Besatzungsmacht außer Landes gebracht und starb laut Amtsvermerk
auf der Meldekarte am 22.1.1951 in einem sowjetischen Gefangenenlager.
In Hausmening hatten vor 1938 die jüdischen Familien Mahler bzw. Schanzer
ein Geschäft an der Bahnhofstraße 1 betrieben.
Friederike Schanzer, deren Tochter Trude Schanzer und die Schwester
Friederike Schartzers, Auguste Leitner, sind in den Vernichtungslagern
umgekommen.
Der Sohn Hermann Schanzer (1919) wurde 1938 zunächst zwei Monate
inhaftiert, verbrachte dann ein Jahr in einem landwirtschaftlichen
"Umschulungslager" in Schwadorf. Es gelang ihm dann die Flucht und
die illegale Einreise nach Palästina. Dort verbrachte er eine sechsmonatige
Haft durch die Engländer. Freiwillig machte er dann Kriegseinsatz in einem
englischen Regiment im Fernen Osten und in Afrika. Am 1.1.1947 kehrte er nach
Österreich zurück. Der Tod aller seiner Angehörigen in Minsk und Auschwitz
betastete ihn seelisch außerordentlich. Sein depressiver Zustand
verschlechterte sich so sehr, dass er am 7.12.1976 freiwillig aus dem Leben
schied.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen